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„2023 wird weiter gekämpft – notfalls bis zum Umfallen“

150 Mitarbeiter und Betreuer der Dreescher Werkstätten machten sich am 7. November auf den Weg nach Berlin, um für mehr echte Teilhabe und gegen das kommende Bundesteilhabegestz (BTHG) zu demonstrieren.

Ingo Kömling will kämpfen. Dort, wo über die zukünftigen Gesetze beraten und entschieden wird. Zusammen mit rund 150 Kollegen und Betreuern hat sich der 42-jährige, leicht geistig behinderte Mitarbeiter der Dreescher Werkstätten am 7. November auf den Weg nach Berlin gemacht, um für eine Überarbeitung des geplanten Bundesteilhabegesetzes zu demonstrieren. „Das Gesetz verstößt gegen die Verfassung, gegen Artikel eins des Grundgesetzes. Das müssen sich die Abgeordneten hinter die Ohren schreiben!“ Ingo weiß, was für ihn auf dem Spiel steht, Politik und Zeitgeschehen interessieren ihn. Die Tagesschau verpasst er nie.

Wenn Ingo Kömling nach seiner Arbeit bei den Dreescher Werkstätten nach Hause kommt, geht er gern spazieren oder macht es sich in seiner Wohnung gemütlich. Tagsüber in der Werkstatt sorgt er in der Wäscherei für gemangelte Tischdecken und Bettwäsche, gebügelte Arbeitskleidung und so einiges mehr. Viele Schweriner Hotels und Pensionen, Arztpraxen und andere kleine Betriebe lassen ihre Wäsche bei den Dreescher Werkstätten waschen und bügeln. Der engagierte Mitarbeiter mag seinen Job, er könnte sich nicht vorstellen, ohne Aufgabe zu sein. Bei seiner Arbeit, wie auch in seiner eigenen Wohnung fühlt er sich sicher. Sicher fühlt er sich auch bei vertraglichen Angelegenheiten, Bankgeschäften und Behördengängen und allgemeinem Schriftverkehr – denn für diese Aufgaben steht ihm pro Woche für zwei Stunden eine Assistenz zur Seite.

Aber Ingo Kömlings sicheres Gefühl geriet in diesem Sommer ins Wanken. Der Gesetzesentwurf für das neue Bundesteilhabegesetz sickerte durch und versetzte Behindertenverbände und Betroffene gleichermaßen in Aufruhr. Mit zu den schärfsten Kritikpunkten am neuen Gesetz gehörte, dass Menschen mit Behinderung künftig mindestens in fünf von neun Lebensbereichen Einschränkungen aufweisen müssen, um einen Anspruch auf Eingliederungshilfe zu haben. Die Gesetzesänderung hätte vor allem viele Menschen mit geistiger Behinderung getroffen.

Auch Ingo Kömling – er ist sehr mobil, kommunikativ und weitestgehend selbstständig – er wäre komplett durch dieses Raster gefallen. Die Fahrt zur Demo nach Berlin war für ihn deshalb selbstverständlich.

„Es war keine Frage, dass wir nach Berlin fahren, als wir von der Demonstration gegen das neue BTHG erfahren haben“, sagt Kathleen Altus, Sozialpädagogin im Begleitenden Dienst der Dreescher Werkstätten. „Das BTHG mit all seinen Neuregelungen hätte auf verschiedenen Ebenen die meisten unserer Mitarbeiter betroffen.“

Ihre Kollegin Sibylle Wolter erzählt von der Tour: „Es war ein gewaltiger Anblick, als wir mit unseren Reisebussen in die Straße des 17. Juni einfuhren: Die Kolonne aller Busse zeigte eindrucksvoll, wie viele Menschen sich aus ganz Deutschland auf den Weg gemacht hatten, um für ihre Gleichberechtigung und Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu kämpfen.“ Über 7.000 Menschen sind am 7. November am Brandenburger Tor zusammengekommen. „Unsere Mitarbeiter sind stolz, dabei gewesen zu sein. Es hat sie in ihrem Selbstbewusstsein sehr gestärkt, sich laut und deutlich für ihre Rechte einzusetzen – jeder auf seine ganz individuelle Art und Weise“, so Wolter weiter.

Der Einsatz hat sich gelohnt: Die meisten Forderungen nach Veränderungen am Gesetz wurden gehört und eine entsprechende Nachbesserung vorgenommen.

Für Ingo Kömling heißt das: Die 5-von-9-Regelung für den Zugang zu Leistungen der Eingliederungshilfe ist zunächst vom Tisch. In den nächsten sechs Jahren wird erst wissenschaftlich erforscht und dann modellhaft erprobt, wie der Personenkreis der Leistungsberechtigten künftig sinnvoll beschrieben werden kann.

Und nach sechs Jahren, also „2023 wird dann eben weiter gekämpft,“ sagt Ingo dazu, „notfalls bis zum Umfallen!“

 

Laden Sie sich hier den ganzen Artikel aus dem Magazin des PARITÄTISCHEN 1/2017 herunter